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11.11.2018

Dr. Victor Adler

Am 11. November 1918 starb Victor Adler, der „Gründungsvater der österreichischen Sozialdemokratie“. Als selbstloser Armenarzt, unerschütterlicher Humanist und glühender Demokrat waren soziale Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich Victor Adlers oberste Anliegen. Seine Grundwerte und sein unermüdlicher Einsatz für die Menschen bleiben uns bis heute Vorbild.

Mit seiner Vision einer neuen Gesellschaftsordnung, deren Fundament Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität war, einte der stets um Ausgleich bemühte Adler am Hainfelder Parteitag 1888/89 die zersplitterten Lager der Arbeiterbewegung und begründete damit die sozialdemokratische Partei. In Zeiten monarchischer Repression und Zensur ist Victor Adler entschlossen und furchtlos für die Ideale der Sozialdemokratie und für die Demokratie eingetreten.“ In seiner vermittelnden Rolle hat Adler mit Weitsicht und viel Fingerspitzengefühl den Übergang von der Monarchie zur Republik eingeleitet.

 

Victor Adler: Hofrat der Revolution von Wolfgang Maderthaner(„Die Zeit“/45/2018)

Der freisinnig-bürgerliche Intellektuelle Victor Adler ist eine geradezu paradigmatische Figur sowohl des Wiener Fin de Siècle als auch des internationalen Sozialismus.

Da ist einmal der begüterte Sohn einer kommerziell erfolgreichen Handelsfamilie. Er ist ein Deutschnationaler, der sich antihabsburgischen und den republikanischen Idealen der 1848er-Revolution verpflichtet fühlt. Zum Protestantismus konvertiert er, um sich und seinen Kindern das "Entree-Billett" zur deutschen Kultur zu eröffnen, wie er in Anlehnung an ein berühmtes Heine-Zitat formuliert. Da ist aber auch der jüdisch-assimilierte, fanatische Schopenhauer-Verehrer, der einen erlesenen Kreis junger Künstler und Studenten um sich schart. Er ist Mediziner und Armenarzt, der in seiner Praxis in der Berggasse 19 (später die Adresse Sigmund Freuds) tagtäglich mit einem unsäglichen Proletarierelend konfrontiert wird, und er betätigt sich zugleich als Zeitungsherausgeber, der mit aufrüttelnden Sozialreportagen einen Blick in einen für undenkbar gehaltenen sozialen Abgrund eröffnet, welcher sich nur wenig abseits des Ringstraßenglanzes auftut. Er gründet und organisiert eine demokratische Massenpartei neuen Stils, die er zu einer im innerösterreichischen Vergleich unerreichten Durchschlags- und Mobilisierungskraft führt. Aber da ist auch der Dandy, Gesellschaftslöwe und Stammgast literarischer Salons, der gelegentlich das Casino in Monaco besucht. Schließlich übernimmt Adler am Ende seines Lebens die Rolle eines Elder Statesman, der in den Novembertagen des Jahres 1918 als Außenminister den verbliebenen Rest der Habsburgermonarchie in eine demokratische Republik überführt. Somit verkörpert er vieles von dem, was damals ein akkulturiertes großbürgerliches Wiener Judentum in seiner kulturellen Signifikanz ausmachte.

Victor Adler kam am 24. Juni 1852 als Sohn einer deutschjüdischen Prager Familie zur Welt. Er wurde gleichsam in ein deutschnationales Milieu hineingeboren, da sich die Prager Juden als Verteidiger, ja Retter des Deutschtums vor einem erwachenden slawischen Nationalismus fühlten. Mitte der 1850er-Jahre übersiedelte die Familie nach Wien. Hier erwarb sich der Vater, Salomon Markus Adler, nach Jahren der bedrückenden Not, im Realitätenhandel und an der Börse ein beträchtliches Vermögen. Die Familie bezog eine Villa in Oberdöbling, klassischer Sitz der gehobenen Bourgeoisie. Der Freundeskreis, der sich regelmäßig im Hause Adler um Victor versammelte, gab sich selbst die Bezeichnung Adlerhorst. Seine Mitglieder waren samt und sonders von den großen Idealen der bürgerlichen Revolution von 1848 erfüllt: radikale Demokratie, Republik und großdeutsche Einigung.

Die schwere Finanz- und Spekulationskrise von 1873 und die Stagnation der Folgejahre zerstörten ihren Glauben an die zukunftsgestaltende Kraft des herrschenden Wirtschaftsliberalismus. In ihrer Rebellion wandten sich die Jungen der Kunst als Lebensform zu. Man führte leidenschaftliche Diskussionen über Literatur und Kulturtheorie und fand sich in einer nahezu fanatisch zu nennenden Wagner- und Nietzscheverehrung vereint. Alle verfolgten sie den Traum einer möglichst vollständigen Assimilation an jene Kulturnation, die sie als die am höchsten entwickelte erachteten: ein Deutschtum, das die unverfälschten Werte der Aufklärung, der Emanzipation, des Fortschritts, des gleichen Rechts, der Freiheit, der Kultur verkörperte. Emanzipation, Kultur, Bildung und Deutschtum wurden, in diesem Verständnis, ununterscheidbar zu ein und demselben.

Der deutsch-tschechische Sozialdemokrat Karl Kautsky, der zu Beginn der 1880er-Jahre versuchte, in der kaum existenten und durch massive Fraktionskämpfe beinahe paralysierten Arbeiterbewegung Fuß zu fassen, lernte um diese Zeit Victor Adler und dessen Freundeskreis kennen. "Um ihn sammelte sich eine Corona von Intellektuellen – Ärzte, Advokaten, Musiker, Journalisten ... Alle, die ihm angehörten, waren sozialistisch interessiert, mancher war fast Sozialist. Nur eines schied sie alle von mir: ihr ausgesprochener, intensiver deutscher Nationalismus. (...) Die österreichischen Juden waren damals die feurigsten Vertreter des Anschlussgedankens."

Der auffallend begabte, jedoch durch einen Sprachfehler beeinträchtigte Victor Adler hatte das Schottengymnasium besucht, wo er den Schneidersohn Engelbert Pernerstorfer kennenlernte. Über Pernerstorfer, Mitglied des 1869 gegründeten Ersten Wiener Arbeiterbildungs-Vereins, ergaben sich zunächst noch lose Kontakte zur jungen Wiener Arbeiterbewegung. Ihre eigentliche Welt aber blieb der Deutschnationalismus: Adler und Pernerstorfer stiegen in der sich formierenden deutschnationalen Bewegung zu führenden Köpfen auf. Adler verfasste den sozialpolitischen Teil ihres Linzer Programms von 1882, und Pernerstorfer legte 1883 ein bemerkenswertes, jedoch nie realisiertes Organisationskonzept vor, das die Grundlage für die Entwicklung einer modernen Massenpartei darstellen sollte. Seine Prinzipien wurden später in vielerlei Hinsicht von der auf dem Parteitag in Hainfeld (1888/89) geeinten österreichischen Sozialdemokratie übernommen.

Adler hatte mittlerweile sein Studium der Medizin abgeschlossen und war, wie der um vier Jahre jüngere Sigmund Freud, Assistent bei dem Gehirnphysiologen Theodor Meynert geworden. Später studierte er, wie Freud auch, bei dem berühmten Pariser Neurologen und Hypnotiseur Jean-Martin Charcot. In seiner eigenen Arztpraxis wurde er sehr schnell mit jenem unsäglichen Arbeiterelend konfrontiert, das mehr als alles andere für die endgültige Hinwendung Adlers zum Sozialismus bestimmend wurde. Nach einer erfolglosen Bewerbung um einen Posten als Fabrikinspektor schloss er sich der Arbeiterbewegung zu einem Zeitpunkt an, da diese Mitte der 1880er-Jahre aufgrund massiver behördlicher Verfolgungen und infolge eines verheerenden Fraktionskampfes zwischen Radikalen und Gemäßigten praktisch zu existieren aufgehört hatte.

Beträchtliche Teile des von seinem Vater ererbten Vermögens investierte er sofort in die Gründung einer Wochenschrift, der Gleichheit. Diesem ersten "Zentralorgan" der österreichischen Arbeiterbewegung, von den Behörden zunächst ignoriert und später Opfer einer Rekordanzahl von Beschlagnahmen, kam im Prozess der Wiedervereinigung der gespaltenen Bewegung die unzweifelhaft wichtigste Rolle zu.

Im Übrigen pflegte Adler die Attitüde des Berufsrevolutionärs ebenso wie jene des Großbürgers, verfügte zugleich über eine unnachahmliche Fähigkeit zum Kompromiss und war ein wahrer Meister der Ironie. Am Pariser Gründungskongress der Zweiten Internationale 1889 beschrieb er etwa die österreichischen Zustände als "Despotismus, gemildert durch Schlamperei". Er hegte eine ausgeprägte Abneigung gegen Abstraktion und gegen historische Konstruktionen, gegen alles, was er das "Hypothetische" nannte.

Es ist bezeichnend, dass er als einer der wenigen Großen des internationalen Sozialismus kein theoretisches Werk hinterließ. Er sei ein "ganz brauchbarer Colporteur fremder Ideen", meinte er in einem Brief an Kautsky, dem allerdings beinahe "das Organ für die Theorie" fehle. Und an den deutschen Sozialisten August Bebel schrieb er einmal: "Die Gelehrten fürchten ihre künftigen Kritiker mehr, als die Folgen ihres Tuns. Während der Politiker – das weißt Du doch am besten – sich den Teufel um die Logik kümmert, wenn’s nur klappt und wirkt!" Bei Friedrich Engels, mit dem ihn seit Ende der 1880er-Jahre eine innige Freundschaft verband, bewunderte er vor allem dessen Fähigkeit zur "Anwendung der Theorie in corpore vivo". Sich selbst und den "General" Engels bezeichnete er als "Hofräte der Revolution".

Adler, dem mehr als einmal vorgeworfen wurde, Meister jeglichen Opportunismus zu sein, liebte den politischen Tageskampf. Er war ein geradezu meisterhafter Taktiker, wie nicht zuletzt in der Endphase des Kampfes um das allgemeine Männerwahlrecht 1905 offenkundig wurde. In einem stillen historischen Kompromiss erreichte er ein vorübergehendes Bündnis zwischen Krone, Bürokratie und Sozialdemokratie gegen das Privilegienparlament. Praktisch im Alleingang kämpfte er die Wahlrechtsreform im parlamentarischen Ausschuss durch. Die österreichische Arbeiterpartei hatte ihren bislang größten Erfolg errungen und sich den Ruf einer "k.k. priv. Socialdemokratie" eingehandelt. Und als deren unumstrittener Chef genoss der politische Arzt die uneingeschränkte Verehrung der Arbeitermassen, die "ihren Doktor" zu einer Art Ersatzkaiser hochstilisierten.